UXcamp Europe 2025 Tag 1: Zwischen Unsicherheit, Reflexion und Verantwortung

Samstag

Der erste Tag fühlte sich dieses Jahr anders an. Die Stimmung war etwas gedämpfter als sonst – keine alten Sponsoren, freie Slots im Sessionboard und keine T-Shirts. ;-) Aber vielleicht passte das ganz gut zu dem, was in vielen Sessions mitschwang: Wir stehen an einem Übergang. Und als UX-Community spüren wir das deutlich.
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Was bedeutet es, heute Designer:in zu sein – in einer Zeit, in der sich Tools, Rollen und Anforderungen verschieben und Menschen vor KI Angst haben?
Wie können wir relevante Arbeit leisten, wenn Systeme komplexer, Menschen kritischer und Zukunftsszenarien unklarer werden?

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Der erste Tag brachte für mich keine fertigen Antworten, aber viele gute Fragen und Impulse, die unter die Oberfläche gingen. Hier sind vier Sessions, die mich besonders beschäftigt – und inspiriert – haben:

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Session: Dinner Party – Research als Team Rezept

Das Rezept fĂĽr forschungsgetriebene Teams
Speaker:
Ondrej Glaser

In dieser Session teilte Ondrej Glaser seine Erfahrungen als UX-Researcher und eröffnete sie mit einer treffenden Metapher: Research als Dinner Party. Wer Menschen einlädt, will sie nicht nur satt machen, sondern willkommen heißen. Es geht um Timing, Vorlieben, Allergien – und um echte Verbindung.

Seine zentrale These: Research wirkt nicht durch Methoden, sondern durch Beziehungen. Eine gute Research-Kultur entsteht dort, wo Teams gemeinsam Verantwortung übernehmen, Ergebnisse teilen und sich gegenseitig stärken ("enablen"). Besonders eindrücklich war die Geschichte über eine PM, die keinerlei Research-Erfahrung hatte – und wie Ondrej sie Schritt für Schritt befähigte.

Auch mit typischen Herausforderungen ging er offen um: Was tun, wenn niemand die Ergebnisse lesen will? Wie misst man den Impact? Seine Antworten: Ergebnisse visuell und zugänglich machen. Persönliche Beziehungen aufbauen und pflegen. Kleine Insights teilen. Und immer wieder an den Zielen ausrichten.

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Die fĂĽnf Zutaten fĂĽr erfolgreiche Research-Kultur (laut Ondrejs Slides):

  1. Mach es ansprechend – Research muss Appetit machen.
  2. Kenne deine Gäste – Stakeholder verstehen.
  3. Decke den Tisch – den Rahmen schaffen.
  4. Genieße das Essen – gemeinsam nutzen, nicht nur konsumieren.
  5. Teile das Rezept – Learnings dokumentieren und weitergeben.

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Die vollständigen Slides gibt’s hier: ondrejglaser.com/berlin25


📝 Meine Gedanken dazu:

Die Dinner-Metapher hat mich sofort abgeholt – eingängig, greifbar und trotzdem tiefgründig. Besonders hängen geblieben ist mir, wie viel Vertrauen es braucht, damit Research nicht nur stattfindet, sondern wirklich wirkt. Ich habe mich gefragt: Welche "Rezepte" teile ich eigentlich schon – und welche halte ich noch zurück? Die Metapher hat mir geholfen, über Stakeholder-Beziehungen anders nachzudenken.

Session: ABCC: Immer Klarheit schaffen – tägliche Gewohnheiten für strategische Storyteller

Tägliche Gewohnheiten für strategisches Storytelling
Speaker:
Ben Sauer

Ben Sauer sprach über ein oft unterschätztes, aber alles veränderndes Thema: Klarheit. Er begann mit einem einfachen, aber treffenden Vergleich: Schlechte Kommunikation ist wie ein Produkt mit zu vielen Features – ein Schweizer Taschenmesser mit 17 Funktionen, von denen keine wirklich gut funktioniert.

Seine These: Gute Kommunikation ist "egoistisch". Sie fragt nicht, was ich sagen will – sondern, was andere wirklich verstehen. Dafür braucht es mehr als schöne Folien; es braucht Struktur, Storytelling und ein tiefes Verständnis für die Wirkung.

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Der Gelbe Walkman: Eine Lektion in Nutzerforschung‍

Ben zeigte Tools und Frameworks auf, um Ideen klarer zu machen – von Headline-Formeln bis zu narrativen Strukturen. Ein prägnantes Beispiel war die Anekdote vom gelben Sony Walkman, die als "Urban Legend" im Produktdesign kursiert. Sie verdeutlicht entscheidend den Wert von Nutzerforschung.

Die Geschichte geht so: In einer Fokusgruppe erhielt Sony positive Rückmeldungen für einen gelben „Sport“-Walkman. Doch als den Teilnehmern am Ende die Wahl zwischen dem gelben und einem traditionellen schwarzen Modell geboten wurde, wählten alle den schwarzen Walkman.

Diese Begebenheit ist ein perfektes Lehrstück für den Unterschied zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun. Sie zeigt, wie Höflichkeit oder Gruppendruck in Fokusgruppen die wahren Präferenzen verschleiern können. Für Produktentwickler ist die Quintessenz: Verlasse dich nicht allein auf direkte Befragungen.

Der Sony Walkman, der 1979 auf den Markt kam, revolutionierte unser Verhältnis zur Musik. Die Geschichte des gelben Walkman ist dabei ein starkes Beispiel dafür, wie wichtig Experimentdesign und die Beobachtung natürlichen Verhaltens sind, um Risiken zu reduzieren und Produkte zu entwickeln, die wirklich auf Nutzerbedürfnisse treffen. Es geht darum, authentische Einblicke zu gewinnen.

Ben zeigte, wie wir durch Metaphern, Wiederholungen und Kontraste Klarheit erzeugen – und warum Präsentationen wie „Jurassic Park“ oder „Mission Impossible“ funktionieren: Weil sie überraschen, provozieren und thematisch relevant sind.

Zum Schluss verwies Ben noch auf gängige, aber fantasielose KI-Metaphern, die oft mit menschlich aussehenden Roboterbildern arbeiten.

Diese Visualisierungen verengen unsere Vorstellungskraft – anstatt sie zu weiten. Gerade im Kontext von KI, die so stark unsere Arbeitsweise verändert, brauchen wir neue Bilder, neue Metaphern – und vielleicht auch: neue Narrative.

Seine Session war eine Einladung, Kommunikation als Design zu begreifen – strategisch, strukturiert und wirkungsvoll. Man lernt in der Schule oder Uni zu schreiben – aber nicht zu sprechen. Vielleicht sollten wir das ändern.

Die Folien: https://www.dropbox.com/scl/fi/j6uu1q9eusw21vprf0twe/Always-Be-Creating-Clarity-UXCampEurope-2025.pdf?rlkey=vj67ptqx6fx6gqn3lclr4dt9m&dl=1


📝 Meine Gedanken dazu:

Diese Session war für mich ein echter Reminder, wie sehr Klarheit ein strategisches Werkzeug ist. Ich merke immer wieder, wie schwer es ist, die richtigen Worte zu finden – vor allem in komplexen, emotionalen oder politischen Settings, oder auch in einem anderssprachigen Umfeld wie z.B. Englisch, wo ich mich einfach nicht so wohl fühle wie im Deutschen. Es ist ein großer Unterschied, ob man offen diskutiert oder eine toll gestaltete Präsentation mit Beispielen hat, die einfach länger hängen bleiben. Bens Impulse helfen dabei, wieder mehr auf Wirkung statt auf Inhalte zu schauen.

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Session: UX trifft Justiz – von „Legalese“ zu Lebensrealität

Wie wir das deutsche Justizsystem nutzerzentrierter gestalten wollen – am Beispiel der digitalen Beratungshilfe
Speaker:
Marlene Kettner

Marlene arbeitet beim DigitalService des Bundes und gab Einblicke in ein Projekt, das zeigt, wie groß der Hebel von UX sein kann – gerade dort, wo man es nicht erwartet: im deutschen Justizsystem. Sie eröffnete die Session mit fünf Prinzipien, nach denen ihr Team arbeitet: nutzerzentriert, iterativ, interdisziplinär, offen (Open Source) und skalierbar. Diese Haltung bildet die Grundlage für ihre Vorgehensweise und ihren Anspruch an öffentliche digitale Services.

Noch immer sind viele Prozesse papierbasiert: 638 lokale Gerichte, über 400.000 Anträge auf Beratungshilfe pro Jahr – mehr als die Hälfte davon handschriftlich. Die Fehlerquote? Bis zu 71 % bei Papierformularen! 🤯

Das Team des DigitalService hat diesen Prozess neu gedacht und eine digitale Antragsstrecke entwickelt, die einfacher, verständlicher und zugänglicher ist. Mit spürbarem Effekt: Bei Online-Anträgen liegt die Fehlerquote nur noch bei 43 %.

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Die fĂĽnf Schritte der neuen Journey:

  1. Informieren – bessere Vorbereitung
  2. Daten erfassen – verständliche Eingaben
  3. Identifizieren & Einreichen – weniger Medienbrüche
  4. Rückmeldung ermöglichen – schnellere Kommunikation
  5. Entscheidung – klare, effizientere Prozesse

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Basis für das Projekt ist ein Kollaborationsmodell namens „The Onion“ – mit dem DigitalService und dem Bundesjustizministerium im Kern, Pilotgerichten, Fachexpert:innen und zehn Bundesländern im Dialog. Methodisch arbeiten sie mit einer Adaption des Triple Diamond.

Marlene teilte drei Learnings:

  • Partizipation ĂĽber Hierarchien hinweg ist möglich – und nötig.
  • Strukturierte Zusammenarbeit schafft Zugang zu juristischen und menschlichen Perspektiven.
  • Veränderung geschieht durch Umsetzung – nicht durch Planung.
Mehr zum Projekt gibt’s hier: digitalservice.bund.de/projekte‍

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Beratungshilfe: https://service.justiz.de/beratungshilfe


📝 Meine Gedanken dazu:

Ich fand es inspirierend zu sehen, wie nutzerzentrierte Gestaltung ganz konkret gesellschaftlichen Mehrwert schafft – und wie mutig sie den oft trägen öffentlichen Sektor angeht. An diesem Beispiel wird wieder sehr deutlich, wie kraftvoll ein fundierter Designprozess und interdisziplinäre Teams wirken können. Solche Case Studies zeigen eindrucksvoll, was in welcher Phase als Outcome generiert wurde, geben Struktur und man kann der Story immer sehr gut folgen.

Session: Relevanz ist Sicherheit – und Verantwortung

Wie Designer:innen relevant bleiben können, während sich alles verändert
Speaker:
Thiago Esser

Thiago Esser eröffnete seine Session mit einem kollektiven Gefühl: Unsicherheit. Viele Menschen machen sich Gedanken über ihre Zukunft – und das zurecht. Laut dem „Future of Jobs Report 2025“ des World Economic Forum werden sich 40 % der beruflichen Fähigkeiten zwischen 2025 und 2030 verändern. Millionen neue Jobs werden entstehen, aber auch viele wegfallen.

Für Thiago ist Relevanz nicht bloß ein Karriereziel, sondern emotionale Sicherheit. „Relevanz bedeutet Sicherheit.“ Die große Frage: Wie bleiben wir in Bewegung, ohne uns selbst zu verlieren?

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Seine vier Antworten – eher Wetten als Wahrheiten:

  1. Arbeit ist global und verteilt: Tools entwickeln sich rasant, kulturelle Unterschiede bleiben. Orientierung hilft – lokal wie mental.
  2. Wohlbefinden ist essentiell: Burnout ist real. Erholung gehört zur Struktur, nicht ans Ende.
  3. Lernen ist eine Haltung: Schreiben, Bauen, KI nutzen – aber nicht allem hinterherlaufen. Kombiniere, was zu dir passt.
  4. Führung ist Wirkung, nicht Titel: Räume schaffen für Vertrauen, Kritik, Zusammenarbeit.

Am Ende stand die Frage: Was ist eigentlich sinnvolle Arbeit? Vielleicht suchen wir gar nicht nach Effizienz – sondern nach Richtung, Tiefe, Bedeutung.
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Thiagos Rat: „Füll deine Tasse mit Sinn – damit du weiter springen und länger laufen kannst.“


Die Folien:
https://www.canva.com/design/DAGpF6TLchg/I4OqTZB77RcBUgWx8U1-KA/edit


📝 Meine Gedanken dazu:

Die Session hat bei mir einen Nerv getroffen. Ich frage mich oft, wie ich relevant bleiben kann, ohne in einem ständigen Optimierungsmodus zu landen. Thiagos Haltung – eher Wetten als Wahrheiten aufzustellen – hat mich beruhigt. Es geht nicht darum, alles zu wissen, sondern um Offenheit, Präsenz und den Mut, den eigenen Weg mitzugestalten. Aber auch die Einsicht, dass man immer die Möglichkeit hat, sich eine neue Perspektive zu suchen, egal ob als Designer:in oder vielleicht auch etwas komplett Neues. Wer sagt, was richtig und falsch ist? Und warum müssen Menschen ihr ganzes Leben im selben Beruf bleiben, wenn sie von etwas Neuem träumen? Ich bewundere solche Menschen und wer weiß, ob ich nicht irgendwann mal etwas anderes mache. Wenn Sachen nicht passen: „Love it, leave it or change it“. Egal ob es der Jobwechsel zu einem anderen Unternehmen oder aber etwas komplett anderes ist. Hab den Mut, Dinge zu verändern! Mut wird immer belohnt, auch wenn der Weg nicht einfach ist. Ich bereue keine meiner Entscheidungen, Sachen zu ändern; ganz im Gegenteil, sie haben mich zu der Person gemacht, die ich bin, und darauf bin ich sehr stolz.

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Was bleibt – und wie es weitergeht

Am Ende dieses ersten Tages war ich nicht erschöpft vor Lautstärke – sondern von allem anderen: von der Fülle, der Reizüberflutung, dem ständigen „Was habe ich verpasst?“ Eine vertraute Mischung aus FOMO und ADHS, gespickt mit Ideen, Eindrücken und Gedanken, die alle gleichzeitig durch meinen Kopf zogen.
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Ich habe mich gefragt:
Wo kann ich eigentlich wirken – und wo nicht?
Was sind meine BedĂĽrfnisse?
Wie passe ich in diese vielen Systeme, und wie viel Spielraum habe ich, wirklich etwas zu bewegen?

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Bemerkenswert fand ich, wie viele Sessions sich mit Barrierefreiheit beschäftigt haben. Und natürlich war KI wieder überall präsent – als Technik, als Diskurs, als Fragezeichen. Aber am meisten haben mich die übergeordneten Themen beschäftigt: Kommunikation. Zwischenmenschliches. Präsenz. Prozesse. Beispiele.
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Und immer wieder:
Was brauche ich – und was braucht die Welt um mich herum?

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Ich merke, wie wichtig es ist, dass wir uns regelmäßig hinterfragen und reflektieren. Dass wir ehrlich sind – zu uns selbst und zueinander. Offen sprechen wir über unsere Bedürfnisse, unsere Stärken und Schwächen – und lernen, beides anzunehmen. Wahre Größe zeigt sich für mich nicht im nächsten großen Projekt, sondern im bewussten Innehalten. In der Fähigkeit, nachhaltig zu arbeiten und langfristig gesund und wirksam zu bleiben.

Der erste Tag war also nicht nur ein Auftakt, sondern auch ein Spiegel – für mich persönlich, aber auch für unsere Rolle als Gestalter:innen in einer sich wandelnden Welt. UX passiert nicht nur auf dem Screen, sondern inmitten komplexer Systeme – geprägt von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, sozialen Herkünften und Barrieren wie Sprache oder Zugang. Wirklich gestalten heißt: zuhören, einordnen, aushalten – und immer wieder neu fragen, wie wir Verantwortung übernehmen können und auch Sachen gehen lassen, wenn sie nicht mehr passen oder ich Dinge nicht ändern kann.


Impulse, die bleiben

Wenn du selbst im UX-Bereich arbeitest, stell dir heute vielleicht eine dieser Fragen:

  • Wo schaffe ich bereits Klarheit – und wo wĂĽnsche ich mir mehr davon?
  • Welche persönlichen Gewohnheiten helfen mir, relevant zu bleiben?
  • Wie kann ich achtsamer arbeiten – fĂĽr mich, mein Team und die Nutzer:innen?
  • Was bedeutet Nachhaltigkeit in meiner Arbeit – jenseits von Effizienz?
  • Was hat dich zuletzt nachhaltig beschäftigt?

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Franzi Detail

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