UX in China: Zwischen Po-Dusche, Alipay und AI-Unsichtbarkeit

Was Toiletten, QR-Codes und Super-Apps ĂŒber die Gesellschaft in China verraten

In den letzten drei Wochen war ich im Urlaub und bin von Nord- nach SĂŒdchina gereist – neun Stationen, hunderte EindrĂŒcke und ein Kopf voller Kontraste.

Als UX-Designerin interessiere ich mich fĂŒr die BedĂŒrfnisse von Menschen und wie sie in Interaktion mit Dingen gehen. Normalerweise gestalte ich den lieben langen Tag SoftwareoberflĂ€chen, finde heraus, was Nutzer wollen, und setze diese dann in die OberflĂ€che um – immer mit dem Ziel, eine intuitive Erfahrung zu schaffen, die echten Mehrwert bietet.

Meine Leidenschaft fĂŒr UX kann ich natĂŒrlich auch auf Reisen nicht ablegen. Ich erforsche andere Kulturen und ihre Interaktionsmuster. Wie funktionieren digitale Systeme in anderen LĂ€ndern? Was sagt eine Toilettenlösung ĂŒber gesellschaftliche Werte? Und warum wirken â€žĂŒberladene“ Interfaces in China so effizient?

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Eine neue Kategorie im Blog: UX & Kultur

In dieser Kategorie erforsche ich, wie Kultur unser VerstĂ€ndnis von BedĂŒrfnissen, Design und Technologie prĂ€gt. Hier teile ich Beobachtungen, Reflexionen und Aha-Momente aus der Welt – mit der Brille einer UX-Designerin, die gerne hinter die Kulissen schaut. Zwischen Alltag, Infrastruktur und kulturellen Mustern.

Meine letzten Aha-Momente waren in Asien, wo es an vielen Ecken GetrĂ€nkeautomaten gibt – ich konnte mir dort problemlos meinen Lieblingstee frisch bestellen, ganz ohne Personal und auch digital bezahlen. Oder aber in Indien, wo ich an einer GarkĂŒche per QR-Code zahlen konnte. Solche Momente zeigen, wie tief technologische Systeme kulturell verwoben sind.

Fotos: GetrÀnkeautomat in Bangkok

Drei Wochen, neun Stationen: Unterwegs durch China

Meine Rundreise war durchgetaktet: Jeden Morgen sehr frĂŒh aufstehen, rein in den Bus, Programm, EindrĂŒcke, GesprĂ€che, Kontraste. Von Peking bis Shanghai. Mein Kopf wurde einmal durchgepustet.

Ich nehme es vorweg: Die Roboter aus den Instagram-Videos? Die habe ich kaum gesehen. Stattdessen habe ich beobachtet, wie tief digitale Infrastruktur, gesellschaftliche Organisation und kulturelle PrÀgung miteinander verwoben sind.

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Von Powerbanks bis Po-Duschen: Wenn BedĂŒrfnisse System werden

In China steht die Powerbank ganz unten in der BedĂŒrfnispyramide – und das meine ich ernst. An jedem Ort finden sich Lade- und Leihstationen: im Restaurant, im Bus, an der Straße und auf der öffentlichen Toilette im Park.

Grafik: BedĂŒrfnispyramide in China
Foto: Powerbank-Stationen im Alltag

Strom ist kein Luxus, sondern Grundausstattung. Wer je mit leerem Akku durch eine Millionenstadt irrte, weiß: Das ist kein Komfort – das ist Infrastruktur.

Auch Toiletten erzĂ€hlen viel ĂŒber gesellschaftliche Haltungen:

  • Überall Hocktoiletten – nicht immer mit Papier, dafĂŒr funktional
  • Automaten fĂŒr Toilettenpapier
  • Ab und zu: beheizte Po-Dusche und LED-Kabinenanzeige
Foto: Toilettenpapier-Automat
Fotos: Automat mit Essen, Disney-Kuscheltieren und Zuckerwatte
Foto: Eisautomat per KameraĂŒberwachung

China lebt Effizienz, aber oft auch verspielte Details – ein Land der Kontraste. Automaten fĂŒr alles: Snacks, Spielzeug, Tee. UX ist hier Teil des Stadtbilds.

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UX als Infrastruktur: QR, Alipay und digitale SelbstverstÀndlichkeit

QR-Codes statt Bargeld. Alipay oder WeChat statt Portemonnaie. Ich habe noch nie so oft gesagt: „Warte, ich scanne das kurz.“ Zahlungen bis 200 Yuan (慃 oder „) sind bei Alipay gebĂŒhrenfrei, darĂŒber fĂ€llt eine kleine TransaktionsgebĂŒhr an.

Screenshot: Bestellung und Zahlung in Alipay

98 % meiner Transaktionen liefen ĂŒber Alipay: Taxi mit DiDi buchen, Übersetzen, Wechselkurse checken, Essen ordern, Tickets kaufen – alles in einer App. WĂ€re da nicht die Gruppenkasse unseres Guides gewesen, hĂ€tte ich komplett digital bezahlt.

Beispiel DiDi: Per Alipay Taxi bestellen? Kein Problem. UBER gibt es hier nicht – der chinesische Dienst heißt DiDi und ist direkt in Alipay integriert. Kein App-Wechsel, keine Registrierung – einfach Ort eingeben, losfahren und zahlen.

Screenshot: DiDi in Alipay

Super-Apps wie Alipay oder WeChat sind das Betriebssystem des chinesischen Alltags. Alles ist integriert – von Mikropayments ĂŒber Bewertungen und Zugtickets bis hin zur Hotelbuchung.

Fazit: In China ist UX nicht Add-on, sondern systemrelevant. Intuitive Interfaces sind Teil des öffentlichen Lebens. Straßenschilder und Ampeln sind digital und man kann in Echtzeit sehen, wo gerade Stau ist.

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Kontrolle trifft Komfort: Alipay als digitales Ökosystem

Alipay ist mehr als ein Bezahldienst. Es ist eine digitale Lebensader – praktisch, bequem und gleichzeitig Teil staatlicher Datenerfassung. Praktisch? Ja. Kontrolliert? Auch. Diese Ambivalenz ist stĂ€ndig spĂŒrbar und macht das digitale Leben in China so besonders. UX wirkt hier reibungslos – aber sie trĂ€gt ein anderes MachtverhĂ€ltnis in sich.

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Maximalismus & Mobile First: Wenn „zu viel“ genau richtig ist

Chinesische Apps sind bunt, voll und funktionsreich. Aus westlicher Sicht oft „unĂŒbersichtlich“ – doch hier ein Zeichen von Effizienz.

  • Mehr Infos = mehr Kontext
  • Kein Whitespace, dafĂŒr Dichte
  • Mobile First ist RealitĂ€t: ĂŒber 98 % der Internetnutzung ist mobil
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Beispiele: Trip.com (chinesisches Expedia) ist direkt in Alipay eingebettet. Von unterwegs aus einen Tee oder Burger bestellen. Kein Medienbruch, kein App-Wechsel. UX denkt hier im Ökosystem, nicht im Produkt.

Screenshot: McDonald's

Digitale Abschottung: Offline trotz 5G

Facebook, Google, Instagram? Blockiert. China betreibt mit der „großen Firewall“ ein massives Zensursystem. Statt Google gibt es Baidu – das „Google Chinas“. Ich hatte mir mal den Spaß gemacht und meine Website gesucht – natĂŒrlich nicht auffindbar.

Screenshot: Baidu
Screenshot: AMap

Google Maps war zwar ĂŒber VPN aufrufbar, zeigte jedoch veraltete Informationen und war vor Ort kaum hilfreich – eigene Orte konnte ich dort ĂŒbrigens auch nicht speichern. AMap, das chinesische Pendant, erwies sich dagegen als prĂ€zise und zuverlĂ€ssig. Dank eSIM konnte ich vieles nutzen – allerdings nur mit entsprechender Vorbereitung. Ohne VPN wĂ€re ich ziemlich abgeschnitten gewesen.


Toiletten-UX: Mein Forschungsthema mit Herz

Ich gebe es zu: Toiletten sind meine heimliche UX-Leidenschaft. Ich dokumentiere sie seit Jahren – China war neben Taiwan mein absolutes Highlight. Auf meinem iPhone finden sich inzwischen hunderte Fotos. Also, falls es mal etwas lĂ€nger dauert – jetzt wisst ihr, was ich auf der Toilette wirklich mache. ;-)

Foto: Hightech-Toilette
  • Überall vorhanden
  • Kostenlos
  • Sauber und wartungsarm
  • Mal digital, mal reduziert

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit der hier fĂŒr GrundbedĂŒrfnisse gesorgt wird. Die gesellschaftliche Haltung scheint zu sein: Jede:r muss mal – also schaffen wir Orte, an denen das ohne große HĂŒrden möglich ist. Es sind genau diese kleinen Beobachtungen, die mich zum Nachdenken bringen – ĂŒber unseren Umgang mit öffentlichen RĂ€umen, mit Hygiene und mit Scham. Das VerstĂ€ndnis hier: Hygiene ist Grundrecht, kein Service. Und Wasser? Gibt es an vielen Orten einfach kostenlos – heiß und kalt, direkt am Automaten.

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Sicherheit vs. Freiheit: Eine paradoxe Leichtigkeit

Ich habe mich auf einer Reise noch nie so sicher gefĂŒhlt – und gleichzeitig so eingeschrĂ€nkt. Ein Mitreisender verlor sein Handy und bekam es zurĂŒck. Niemand weiß wie. Ein Moment, der bleibt – oder das Livebild in der Alipay-App beim ersten Mal Taxi bestellen.

Screenshot: Livebild Taxikamera in Alipay

Die ElektromobilitĂ€t ist hier allgegenwĂ€rtig – ĂŒberall E-Autos und Roller. FrĂŒher kostete ein Nummernschild rund 10.000 Euro. Um den Markt zu pushen, wurde die Regel eingefĂŒhrt: Wer ein E-Auto kauft, bekommt das Schild kostenlos dazu. Das Ergebnis? Weniger StraßenlĂ€rm, mehr Verkehr. 2025 wĂ€chst der Markt weiter: SchĂ€tzungen gehen davon aus, dass Elektrofahrzeuge bald ĂŒber 50 % aller Neuwagen in China ausmachen. SUVs, zĂ€h fließender Verkehr, Einzelfahrer – Fortschritt mit neuen Fragen. Und auffĂ€llig: wie viele deutsche Marken und Teslas hier unterwegs sind.

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Mein Wunsch: KI und Robotik im öffentlichen Raum

Ich war neugierig, wie viel von den viel zitierten KI- und Robotik-Innovationen Chinas im öffentlichen Raum tatsÀchlich sichtbar ist. Die Antwort: weniger, als erwartet.

In Peking und Shanghai waren diese Technologien meist tief in die Infrastruktur eingebettet – ĂŒberwachungsgestĂŒtzt, effizient, aber unsichtbar. Sichtbare Anwendungen finden sich vor allem in sogenannten „Smart Cities“ und Tech-Zonen wie Shenzhen, wo humanoide Roboter als Polizeihilfe oder in der Verwaltung eingesetzt werden.

Fazit: KI in China ist weniger sichtbar als funktional eingebettet. Überall Gesichtsscan – keine Roboter auf jeder Straße, dafĂŒr Systeme, die Verkehre lenken, ZugĂ€nge steuern und Lernverhalten analysieren. Fast unsichtbar, aber allgegenwĂ€rtig. Vielleicht liegt die Zukunft in China eher im Systemdenken als in humanoiden Robotern.

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Mein Fazit: Ein Land der WidersprĂŒche, das wirkt

China ist nicht einfach ein Land. Es ist ein Widerspruch auf zwei Beinen – und genau das macht es so faszinierend.

  • Westliche Marken im zensierten Internet
  • Superapps und Bargeldverweigerung neben traditionellen TeehĂ€ndlern
  • Tempel mit QR-Spendenbox


Ein Land der Superlative: Die lĂ€ngste BrĂŒcke der Welt wurde gerade erst eröffnet.

Was ich mitnehme: In China habe ich verstanden, wie tief kulturelle PrĂ€gung unsere digitale Welt beeinflusst. Es gibt nicht die gute UX – sondern nur UX, die in den jeweiligen Kontext passt. Und dass eine Hocktoilette oft die bessere Wahl ist.

Ich wĂŒrde jederzeit wieder hinreisen. Mit VPN, mit TaschentĂŒchern und mit noch mehr Neugier und Zeit. Weil es ein Land ist, das nicht nur schnell wĂ€chst, sondern auch zum Denken anregt. Und weil ich jedes Mal ein bisschen mehr ĂŒber mich selbst lerne, wenn ich fremde BedĂŒrfnisse beobachte.

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Digitalisierung, Vertrauen & Bequemlichkeit: Ein persönliches Nachwort

Viele Menschen in Deutschland haben das GefĂŒhl, Kontrolle zu verlieren, wenn es um Digitalisierung und Finanzen geht. Banken, Staat, Automatisierung – alles wird abstrakter. Bargeld ist fĂŒr viele das letzte greifbare StĂŒck Sicherheit.

Als UX-Designerin ist es mir wichtig, diese Haltung zu verstehen. Nur so können wir Services gestalten, die Vertrauen schaffen. In einer Welt, in der Omnichannel-Strategien den Handel revolutionieren und jeder Prozess optimiert wird, scheuen viele noch die Bequemlichkeit der Digitalisierung. Doch warum eigentlich? Geht es um Datenschutz – oder manchmal auch um Kontrolle ĂŒber das Nicht-Nachvollziehbare?

Wer bewusst auf Service und Komfort verzichtet, darf sich nicht wundern, wenn andere MĂ€rkte schneller wachsen. Und Hand aufs Herz: Ist es bei der Barzahlung wirklich nur Nostalgie – oder auch der Wunsch, unbemerkt zu bleiben? 😉

Bargeld wirkt oft wie ein Symbol fĂŒr Freiheit, dabei ist es teuer und ineffizient. Kaum jemand denkt darĂŒber nach, wie aufwendig es ist: zĂ€hlen, transportieren, sichern, einzahlen. Bargeld kostet Personal, Zeit und Nerven. Selbst fĂŒr HĂ€ndler ist es ein Kostenfaktor – von Tresoren ĂŒber Geldtransporte bis zu BankgebĂŒhren.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie ist dann gut, wenn sie Vertrauen schafft, Prozesse vereinfacht und Menschen entlastet. Und genau das habe ich in China erlebt: UX als System, das funktioniert – mit allen Licht- und Schattenseiten.

Diese Reise hat mir gezeigt: UX ist keine Disziplin – sie ist Ausdruck kultureller Systeme. Sie spiegelt, wie Gesellschaften denken, entscheiden und gestalten. Und genau darin liegt ihre Kraft: UX macht Kultur sichtbar – und Zukunft erlebbar.


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Franzi Detail

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