Gleichberechtigung 2025 – Wenn die letzte Frau den Raum verlässt

Ăśber Macht, Wahrnehmung und die leisen Formen der Ungleichheit
Gestern hat das Statistische Bundesamt neue Zahlen veröffentlicht – und sie sind ernüchternd: Nur 29,1 % der Führungspositionen in Deutschland sind weiblich besetzt. Der EU-Schnitt liegt bei 35 %, in Schweden bei 44 %.
Seit 2014 hat sich hierzulande praktisch nichts bewegt. (Quelle: Destatis, 2025)

Ich habe selbst oft erlebt, wie still Ungleichheit sein kann. Kein lauter Sexismus.
Keine geschlossenen Türen. Nur subtile Muster, die dafür sorgen, dass Frauen übersehen werden – auch 2025 noch.
Wenn man selbst im Raum steht – und trotzdem übersehen wird
Als ich mein eigenes Startup gründete, war ich Mitgründerin, Designerin, Produktverantwortliche. Wir hatten Förderungen, Auftritte, Presseinterviews. Doch sobald das Telefon klingelte, hörte ich denselben Satz:
„Kann ich bitte mit dem Geschäftsführer sprechen?“
Gemeint war immer er. Warum immer er? Nicht, weil ich weniger zu sagen hatte – sondern, weil ich eine Frau war. Und das zieht sich bis heute durch: von Gründerteams über Konferenzen bis in Meetings.
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Zwischen IT und Design: dieselben Muster
Auch in meinem heutigen Umfeld – UX Design, IT, Produktentwicklung – zeigt sich dasselbe Muster:
Männer reden häufiger, Frauen präziser.
Wer laut ist, gilt als durchsetzungsstark.
Wer leise ist, gilt als unsicher.
Aber Lautstärke ist kein Kompetenzindikator.
Und trotzdem werden Rollen oft über Wahrnehmung vergeben – nicht über Wirkung.
Diese unbewussten Mechanismen sind zäh. Sie verstecken sich hinter Strukturen, Routinen, Gewohnheiten – und sie wirken fort, selbst in Teams, die sich „divers“ nennen.

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Wenn die letzte Frau den Raum verlässt – und warum das jede Organisation betrifft
Vor kurzem war ich bei DATEV in einem Vortrag von Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer.
Es ging um ihr Buch „Wenn die letzte Frau den Raum verlässt“ – und schon der Titel hat mich sofort gepackt. Erst war ich ehrlich gesagt irritiert: ein Mann, der über Gleichstellung spricht?
Aber genau das ist der Punkt.
Nicht wir Frauen sollten dauerhaft die sein, die kämpfen und aufklären müssen. Es braucht mehr Männer, die zuhören, unterstützen und mitgestalten – statt Männer, die nur Männer fördern.
Und wenn ich das Thema noch weiterdenke, möchte ich eigentlich gar nicht mehr nur von Männern und Frauen sprechen, sondern von Menschen. Denn auch trans, nicht-binäre und andere marginalisierte Personen sind in Führung und Öffentlichkeit massiv unterrepräsentiert. Wirkliche Gleichstellung schließt alle ein.
Im Vortrag waren rund 570 Teilnehmende aus verschiedenen Unternehmen dabei.
Als ich die Teilnehmerliste durchging, fiel mir auf: Der GroĂźteil waren Frauen.
Wundert mich das? Nein – leider nicht.
Besonders hängen geblieben sind zwei Zahlen:
- 75 % Redeanteil haben Männer durchschnittlich in Meetings.
- Männer unterbrechen Frauen doppelt so häufig, wie es umgekehrt der Fall ist.
Und spannend (und ehrlich gesagt schmerzhaft): Frauen unterbrechen auch andere Frauen häufiger – aber nicht Männer.
Diese Dynamiken passieren oft unbewusst, aber sie formen, wer im Raum gehört wird – und wer nicht.
Herr & Speer nennen „das Schweigen der Männer“ – ein Schweigen, das Ungleichheit stabilisiert. Nicht laut, selten böse gemeint, aber wirkungsvoll. Denn solange Frauen nicht im Raum sind, werden ihre Perspektiven nicht mitgedacht.
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Es liegt nicht (nur) an Zahlen – es liegt am Bewusstsein
Mehr als die Hälfte der Männer glaubt, Gleichstellung sei „weitgehend erreicht.“
Aber nur ein Drittel der Frauen teilt diese Sicht. Diese Wahrnehmungslücke ist entscheidend – und sie zieht sich durch alle Ebenen: von Startups bis Konzernen, von Politik bis Hochschulen.
Herr & Speer bringen es auf den Punkt:
„Viele Männer wissen gar nicht, was sie verlieren, wenn Frauen fehlen – und wie viel besser Räume werden, wenn sie da sind.“
Gleichstellung ist kein Frauenprojekt. Sie ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die nur funktioniert, wenn auch Männer Verantwortung übernehmen – als Allies, als Lernende, als Mitgestalter.
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Gleichstellung heiĂźt alle meinen
An dieser Stelle möchte ich noch auf die Literatur von Emilia Roig hinweisen, die eine weitere, wichtige Perspektive eröffnet – eine, die über den Arbeitsplatz hinausgeht.
In ihrem Buch „Why We Matter“ beschreibt sie, dass Gleichstellung kein einzelnes Ziel, sondern ein Systemwechsel ist. Sie erinnert daran, dass Diskriminierung nie isoliert auftritt – und dass echte Veränderung erst dann entsteht, wenn alle Perspektiven mitgedacht werden: Frauen, Männer, trans, nicht-binäre Menschen, People of Color, Menschen mit Behinderung, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen.
Dieser Gedanke trifft für mich genau den Kern: Gleichstellung ist nicht das Projekt einer Gruppe – sie ist das Fundament für eine gerechtere Gesellschaft.
Und wenn wir über Gleichstellung sprechen, wird häufig sofort das Kinderthema aufgerufen – als wäre Vereinbarkeit der einzige Schlüssel. Natürlich sind gute Strukturen für Eltern wichtig, aber: Nicht jede Frau will oder kann Kinder bekommen.
Und manche – so wie ich – hatten gar nicht erst den Raum, darüber nachzudenken. Weil Karriere, Leidenschaft und permanenter Einsatz so viel Energie fordern, dass kaum Platz bleibt, um solche Fragen überhaupt zuzulassen.
Ich liebe meinen Job. Aber manchmal frage ich mich, ob genau diese Leidenschaft auch der Grund ist, warum ich mir die Freiheit, anders zu leben, nie wirklich genommen habe.
Gleichstellung bedeutet deshalb mehr als Familienpolitik – es bedeutet gleiche Chancen und gleiche Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, welchen Weg man geht.
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Was sich ändern muss
Wir brauchen:
- Sichtbarkeit, die nicht an Lautstärke gekoppelt ist.
- Führung, die zuhört, statt dominiert.
- Räume, in denen leise Stimmen genauso zählen wie laute.
- Und VerbĂĽndete, die verstehen, dass Gleichstellung kein Angriff ist, sondern ein Gewinn fĂĽr alle.
Oder wie Herr & Speer sagen:
„Echte Gleichstellung beginnt da, wo Männer anfangen, leise zu werden – und zuzuhören.“
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Mein Fazit
Ich schreibe diesen Text nicht, um zu jammern. Sondern, um sichtbar zu machen, was sonst untergeht: Wie subtil Ungleichheit wirkt – selbst in modernen, progressiven Arbeitswelten.
Als Gründerin, Designerin und Frau in Tech habe ich gelernt: Gleichstellung braucht Haltung – und Menschen, die im Raum bleiben, wenn’s unbequem wird.
Und genau deshalb finde ich es großartig, dass DATEV solche Themen sichtbar werden – dass es Räume, Vorträge und Angebote gibt, die das Bewusstsein dafür stärken.
Denn Veränderung beginnt genau dort, wo wir zuhören, reflektieren – und den Mut haben, es anders zu machen.
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👉 Meine Buchtipps:
- Wenn die letzte Frau den Raum verlässt – Vincent-Immanuel Herr & Martin Speer, Goldmann Verlag, 2025
- Why We Matter – Das Ende der Unterdrückung – Emilia Roig, Aufbau Verlag, 2021

